Ein Zwischenruf von Thomas Bretschneider, Vorstand Martinsclub Bremen e. V.


Inklusion ist nicht verhandelbar!

Inklusion ist ein Menschenrecht. Die gesellschaftliche Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung ist verbrieft und somit nicht verhandelbar. Doch in der Corona-Zeit schien dies nicht zu gelten. Gewisse Beschränkungen des täglichen Lebens, um das Virus einzudämmen, waren und sind wichtig und machen Sinn. Menschen mit Beeinträchtigungen wurden von den gesellschaftlichen Restriktionen jedoch besonders hart getroffen. Sie haben den Stempel »Risikogruppe« aufgedrückt bekommen. Der Schutz dieser Risikogruppen galt dabei als Maßgabe für alle Anordnungen.

 

Viele Maßnahmen ließen sich jedoch kaum nachvollziehen. Als allerorten Lockerungen in Kraft traten, um die Rückkehr zur Normalität zu bewirken, blieben Menschen mit Beeinträchtigung lange außen vor. Während Menschen aus verschiedenen Haushalten sich wieder besuchen durften, galten für BewohnerInnen betreuter Wohnformen strengere Regeln. Ihnen drohte beim Verlassen ihrer Einrichtungen eine 14-tägige Quarantäne auf ihrem Zimmer ! Was dies für jeden Einzelnen bedeutet, mag man sich nicht ausmalen.

 

Auch in Findorff hatten Menschen mit Beeinträchtigung in besonderer Weise unter den Auswirkungen der Pandemie zu leiden. Unser Findorffer Nachbarschaftshaus NAHBEI – sonst ein rege genutzter Veranstaltungsort – lief für einige Monate auf Sparflamme. Dabei hat das NAHBEI eine enorme soziale Bedeutung: Für unsere Nutzerinnen und Nutzer ist es die zentrale Anlaufstelle. Alle Leistungen des Martinsclub in Findorff werden von hier aus koordiniert. Außerdem fungiert es als Treffpunkt und Begegnungsstätte für die Menschen im Stadtteil. Es ist ein Ort, an dem Inklusion gelebt wird: Menschen mit und ohne Beeinträchtigung verbringen hier Zeit miteinander. Sie tauschen sich aus, entwickeln ein Verständnis füreinander und freunden sich an. 

 


Wir als Martinsclub haben uns das Motto »Wir bieten das ganze bunte Leben« gegeben.

 

Dank allerlei Aktivitäten – etwa Mitmach-Angebote, Kurse und kulturelle Veranstaltungen – kommen hier die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Dabei setzen wir ganz bewusst auf Nähe, soziales Miteinander und menschliche Interaktion. All dies war in der Corona-Krise untersagt und durfte nicht stattfinden. Solche Beschränkungen führen dazu, dass unsere pädagogische Arbeit im Sinne der Selbstständigkeit und Inklusion zunichtegemacht wird. Alles, was wir über Jahre mühsam aufgebaut haben, droht einzureißen. Ein selbstbestimmtes Leben muss trotz Hygiene- und Abstandsregeln möglich sein. Hier drängt sich die Frage auf: Auf welcher Rechtsgrundlage wird darüber entschieden, dass der Schutz eines Personenkreises wichtiger ist als dessen Freiheit und Selbstbestimmung ?

 

»Nichts über uns ohne uns« – so lautet der Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention. Jeder politische Beschluss verlangt, die Meinung der Betroffenen zu hören, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Davon waren wir in der Corona-Krise weit entfernt. Menschen mit Beeinträchtigung haben keinen politischen Einfluss, ihre Stimmen finden kein Gehör – sollten sie aber! Klar ist allerdings, wer in unserer Gesellschaft die Hosen anhat: Flugzeuge müssen fliegen, Autos vom Band laufen, Strände bevölkert werden und selbstverständlich muss auch der Fußball wieder rollen.

 

Wir als Martinsclub haben uns das Motto »Wir bieten das ganze bunte Leben« gegeben. Diesen Leitsatz nehmen wir sehr ernst. Allerdings konnten, nein, wir durften ihm nicht gerecht werden. Denn während der Corona-Krise konnten wir unseren NutzerInnen bloß ein eintöniges Leben bieten. Natürlich haben wir uns jederzeit an geltendes Recht gehalten und tun dies auch weiterhin. Als Behindertenhilfeträger hat sich der Martinsclub aber dazu verpflichtet, unseren NutzerInnen die maximale gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Deshalb fordern wir mehr denn je die Gleichberechtigung von Menschen mit Beeinträchtigung. Es kann nicht sein, dass eine ohnehin sozial benachteiligte Gruppe noch mehr unter den Auswirkungen der Corona-Krise zu leiden hat als der Rest der Bevölkerung. Inklusion ist ein nicht verhandelbares Menschenrecht. Und Menschenrechte gelten selbstverständlich auch in schweren Zeiten.

 

Thomas Bretschneider ist Vorstand des Behindertenhilfeträgers Martinsclub Bremen e. V.. In dieser Funktion setzt er sich seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung ein. In Findorff betreibt der Martinsclub seit über zehn Jahren das Nachbarschaftshaus NAHBEI. Hier finden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen, etwa Lesungen, Ausstellungen, Mitmach-Angebote und Nachbarschaftstreffen statt. Die Räume können für private Veranstaltungen angemietet werden, eine barrierefreie Ferienwohnung für vier Personen steht ebenfalls zur Verfügung. Ansprechpartner vor Ort: Simon Brukner, findorff@martinsclub.de oder unter Telefon 0421/ 83 56 99 14. Weitere Infos auch www.martinsclub.de/standorte/findorff

 

Foto: Frank Scheffka


 

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