Corona hat auch Auswirkungen auf die Lokalpolitik in Findorff: Seit März wurden im 1. Halbjahr alle geplanten Beiratssitzungen abgesagt; zuletzt die Sitzung des Fachausschusses »Bau, Klima, Umwelt und Verkehr« im Juni. Wie es für Findorff mit der gesetzlich vorgeschriebenen Bürgerbeteiligung nach der Sommerpause weitergehen könnte, dazu gab es laut Weser Kurier Anfang Mai ein Treffen. Zitat: »Wir werden Anfang Mai zwischen den Fraktionen beraten, wie wir weiter vorgehen wollen. So werden wir sicherlich erst einmal intern besprechen müssen, wie wir trotz der geltenden Kontaktbeschränkungen die Öffentlichkeit einbeziehen können. Es ist ja nicht realistisch, dass es in nächster Zeit wieder Sitzungen wie gewohnt geben wird – da müssen wir Wege finden.«, sagte damals Beiratssprecherin Anja Wohlers (Grüne).
Bereits Mitte Juni 2020 wurde durch den Stadtteilbeirat einstimmig ein Beschluss zur »Ermöglichung der Teilhabe am politischen Diskurs« gefasst. Darin fordert der Beirat das Ortsamt West und die Senatskanzlei auf, die technischen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, um allen BürgerInnen die digitale Teilnahme an den Beiratssitzungen im 2. Halbjahr zu ermöglichen. Begründung: »Die Kommunalpolitik zeichnet sich durch die räumliche und persönliche Nähe zwischen der Politik und Bevölkerung aus. Wenn Präsenzsitzungen durch eine Pandemie nicht in gewohnter Öffentlichkeit erfolgen könnten, dann sei es notwendig, andere Formen der Öffentlichkeit, Transparenz, Teilhabe und Inklusion zu ermöglichen.« Und weiter: Präsenzsitzungen mit einer eingeschränkten Öffentlichkeit seien ein richtiger und wichtiger erster Schritt. Allerdings müsste das grundsätzliche Ziel darin bestehen, eine umfassende Öffentlichkeit zu ermöglichen. Es solle niemand von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Neben der demokratischen Teilhabe sei die politische Öffentlichkeit eine wichtige Voraussetzung für die gesellschaftliche Kontrollfunktion. Die abschließend genannte Zielsetzung des Beschlusses lautete: »Wenn die Beiratssitzungen in Form einer Videokonferenz organisiert würden, dann wäre es möglich, Kommunikation beispielsweise über einen Chat zu etablieren und dem Anspruch einer umfassenden Öffentlichkeit inklusive politischer Teilhabe gerecht zu werden.«
Nach der Sommerpause ging es allerdings wie gehabt wieder mit den öffentlichen Sitzungen in analogen Räumlichkeiten und ohne Videokonferenzen und Live-Streams weiter – unter strengen Auflagen und mit Anmeldung für stark begrenzte BesucherInnenplätze. Seit September gibt es nunmehr eine Vorlage der Senatskanzlei für die Sitzung des Senats im gleichen Monat zur »Finanzierung der Übertragung von Beiratssitzungen via Live-Stream.« Darin ist zu lesen: »Durch die Änderung des Ortsgesetzes über Beiräte und Ortsämter mit Ortsgesetz vom 13.05.2020 (Brem.GBl. S. 294) wurde in § 14 ein neuer Absatz 2a eingefügt, welcher den Beiräten befristet bis zum 31.03.2021 die Möglichkeit gibt, Öffentlichkeitsbeteiligung einzuschränken sowie auch ohne physische Präsenz mittels digitaler Verfahren wie zum Beispiel Rundfunkübertragung oder Live-Stream und unter Einbeziehung der örtlichen Presse zuzulassen.« Als Lösungsansatz für eine Finanzierung wird ausgeführt: »Nach den Erfahrungen der Bremischen Bürgerschaft, welche bereits Sitzungen via Live-Stream überträgt, sowie nach Einholung eines ersten Angebotes durch einen Dienstleister wurden Kosten für die Übertragung (inklusive Bereitstellung der Technik) in Höhe von rund 2.000,00 EUR pro Sitzung angesetzt.« und »Das maßnahmenbezogene Antragsformular ist als Anlage beigefügt.«
Das klingt als Vorlage für die richtigen Schritte gut, aber es stellen sich nach wie vor für eine praktische Umsetzung folgende Fragen: Ist die genannte Summe pro Sitzung ausreichend? Inwiefern liegen die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung von Beiratssitzungen als Videokonferenz vor? Ist sichergestellt, dass Beiräte schnellstmöglich die notwendige Technik verwenden können? Wie ist der aktuelle Sachstand hinsichtlich der Ausstattung der durch Beiräte regelmäßig genutzten Tagungsräume mit einem W-LAN-Zugang und welche Bandbreite ist hierfür vorgesehen?
Auch in Findorff müssen aufgrund der geltenden Corona-Regeln die Veranstaltungsräume für öffentliche Beiratssitzungen entsprechend groß sein, damit Tische und Sitzplätze mit dem erforderlichen Abstand regelkonform ausgerichtet werden können. Die vor Corona genutzten Veranstaltungsorte sind als Räume allerdings zu klein. Im Vergleich zu anderen Beiräten im Bremer Westen hat der Beirat Findorff keine Möglichkeit Schulen oder Mensen im Stadtteil zu buchen. In den Messehallen auf der Bürgerweise gibt es zwar Räumlichkeiten, die groß genug wären, diese sind aber nicht zu finanzieren. Infrage kommen im Stadtteil letztendlich nur der Gemeindesaal der Martin-Luther-Gemeinde und die Kesselhalle im Schlachthof – und auch diese Räume müssen kostenpflichtig angemietet werden. Um Beiratssitzungen als Live-Stream übertragen zu können, ist für jedes Beiratsmitglied außerdem ein Tisch für ein Mikro zu stellen. Das ist im Gemeindesaal möglich, war in der Kesselhalle auf der erhöhten Bühne aber bisher nicht zu leisten. Mitglieder des Beirats haben eine nachhaltige Lösung für einmalig ca. 4.000,00 Euro erarbeitet, die es allen interessierten Bürgerinnen ermöglichen würde, an per Live-Stream zugänglichen Sitzungen teilzuhaben. Für eine solche Lösung ist es erforderlich, technisches Personal zu rekrutieren – sinnvollerweise als Unterstützung für das personell sowieso schon knapp ausgestattete Ortsamt West, um Beiratssitzungen im Internet für Findorff, Walle, und Gröpelingen live zu streamen, wie es beispielsweise der Beirat Hemelingen bereits seit einiger Zeit praktiziert. Wer den technischen Aufwand und die tatsächliche Anzahl der Beiratssitzungen pro Jahr im Bremer Westen kennt, weiß: Das wird nicht umsonst zu haben sein, sondern ist dauerhaft nur mit einer neuen, vollen Stelle im Ortsamt West zu leisten – besetzt durch eine technisch und organisatorisch versierte Neueinstellung oder alternativ durch Beauftragung externer DienstleisterInnen.
Fazit: Übertragungen von Sitzungen als Live-Streaming im Internet wären für den Beirat Findorff, der bisher keine zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit seiner Arbeit leistet oder leisten kann, ein echter Sprung nach vorn hinsichtlich Transparenz und Digitalisierung. Die Erkenntnis ist da, es fehlt allerdings an der konkreten Umsetzung. Angesichts steigender Coronazahlen besteht für die Senatskanzlei weiterhin akuter Handlungsbedarf – auch um nach § 14 und dem neu eingefügten Absatz 2a des Ortsbeirätegesetzes die Öffentlichkeit der Sitzungen des Beirats Findorff für alle BürgerInnen zumindest digital wieder herzustellen. Die entscheidende Frage ist: Was ist dem Bremer Senat die von allen gewünschte Teilhabe der Öffentlichkeit und mehr Transparenz im lokalpolitischen Diskurs tatsächlich wert – und schafft er noch im ersten Jahr von Corona die Voraussetzungen für eine Lösung? Zeit genug ist über den Sommer ja vergangenen.
Perspektivisch weiter gedacht: Inwieweit ist man eigentlich auch auf ein »Worst-Case-Szenario« vorbereitet, wenn erneut gar keine analogen, öffentlichen Sitzungen mehr stattfinden können – zumal nicht nur die Gesundheit von Beiratsmitgliedern gefährdet wäre, insbesondere die der älteren Mitglieder, die zu den Risikogruppen gehören? Wären dann auch kurzfristig rein virtuelle Beiratssitzungen möglich, die als digitale Videokonferenzen abgehalten und online zu sehen sein könnten – selbstverständlich unter Beteiligung aller interessierten BürgerInnen, die sich mit Fragen oder Anmerkungen zum Beispiel über einen Chat einfach dazu schalten könnten?
Bereits jetzt ist abzusehen: Ein zweiter Lockdown ist in den kommenden Wochen nicht mehr auszuschließen. Auf zeitnahe Lösungen dürfen wir gespannt bleiben, damit Lokalpolitik während Corona auch in Findorff weiterhin stattfinden kann. Preisgünstige Plattformen für Videokonferenzen in Echtzeit mit Chatfunktionen und Präsentationsmöglichkeiten stehen online zur Verfügung. Räumlichkeiten müssten für eine solche Übergangslösung nicht mehr angemietet werden – und Tische und Stühle wären auch keine mehr zu rücken.
Geschrieben im Oktober 2020, Foto: Rebecca Leive
Mathias Rätsch ist Herausgeber von FINDORFF GLEICH NEBENAN, der Stadtteilzeitschrift für Handel, Dienstleistung, Kultur und Politik. Der Diplom-Designer, Texter und Kommunikationswirt ist Initiator des Stadtteilportals www.findorff-gleich-nebenan.de und hat vor zehn Jahren auch mit das Stadtteilportal www.findorffaktuell.de für die Initiative »Leben in Findorff« eingerichtet. In Findorff größter facebook-Gruppe postet er außerdem regelmäßig und freiwillig die Termine der Sitzungen des Beirats Findorff. Warum? Die Antwort ist einfach: Einer muss es ja machen.